Zusammenfassung: Es geht nicht nur ums Geld

Alexander Privitera

AGI Non-Resident Senior Fellow

Alexander Privitera a Geoeconomics Non-Resident Senior Fellow at AGI. He is a columnist at BRINK news and professor at Marconi University. He was previously Senior Policy Advisor at the European Banking Federation and was the head of European affairs at Commerzbank AG. He focuses primarily on Germany’s European policies and their impact on relations between the United States and Europe. Previously, Mr. Privitera was the Washington-based correspondent for the leading German news channel, N24. As a journalist, over the past two decades he has been posted to Berlin, Bonn, Brussels, and Rome. Mr. Privitera was born in Rome, Italy, and holds a degree in Political Science (International Relations and Economics) from La Sapienza University in Rome.

Seit mehr als zwei Jahren hat die europäische Schuldenkrise Amerika und Deutschland geholfen, die Folgen der großen Rezession zu überwinden. Beide Länder werden als Zufluchtsort für Anlagen gesehen und haben daher einen bedeutsamen Kapitalzufluss verbucht. Die Zinsen ihrer Staatsanleihen sind gefallen. Während Kredite in Ländern am Rande Europas teurer geworden sind, sind die Kosten für Kredite in den USA und Deutschland gesunken. Beide Nationen haben das Vertrauen in ihre Finanzsysteme wieder weitestgehend hergestellt. Die US-Notenbank hat durch einige unkonventionelle Maßnahmen (verschiedene geldpolitische Lockerungen und die sogenannte Operation Twist) dafür gesorgt, dass die amerikanische Börse den europäischen Sturm gut überstanden hat. Auch wenn die Arbeitslosenzahlen immer noch hartnäckig hoch sind und die Sorge über ein kraftloses Wachstum steigt, haben die amerikanische und deutsche Wirtschaft die Rezession – auch durch das anhaltende Wachstum in den Schwellenländern – doch bedeutend besser gemeistert als die meisten der europäischen Länder.

Dies wird so nicht weitergehen.

Das Wachstum in Schwellenländern und auch China kühlt sich ab und die Wirtschaftskrise in Europa hat sich verstärkt. Der Aufschwung in den USA ist noch unstabil. Washington sieht sich seinen eigenen Herausforderungen gegenüber, welche durch die drohende Fiscal Cliff noch  verschärft werden, sollten Mitglieder des Kongresses die jetzigen Steuerkürzungen auslaufen lassen und/oder Steuererhöhungen beschließen, um Amerikas steigende Staatsausgaben zu reduzieren. Falls keine Einigung zum Ende des Jahres erzielt wird, werden drakonische Kürzungen von Staatsausgaben automatisch eintreten und das Land wird wahrscheinlich in eine Rezession zurückfallen.

Gleichzeitig beginnt die Export-orientierte deutsche Wirtschaft die Folgen der Wirtschaftskrise in den anderen europäischen Ländern zu spüren. Die Ratingagenturen haben ihre Prognose für die Wirtschaft Europas nach unten korrigiert. Der International Währungsfond erwartet, dass sich das globale Wachstum in den kommenden Monaten durch die Unsicherheit über die politischen Reaktionen auf die Krise weiter verlangsamt. Zum ersten Mal seit der Finanzkrise in 2007 und 2008 könnte die globale Wirtschaft einer globalen Rezession wieder gefährlich nahe kommen.

Um dieser Verkettung unglücklicher Umstände zu begegnen, werden deutsche und amerikanische Politiker in den kommen Monaten einige wichtige und harte Entscheidungen treffen müssen, nicht nur um ihre eigene Wirtschaft zu schützen, sondern um den USA und Europa generell eine neue Richtung, welche in der Krise verloren gegangen ist, zu geben.

Dabei werden die richtigen Entscheidungen nicht einfach zu finden sein; nicht nur ist Politik mit im Spiel, sondern Ökonomen und Politiker sind sich immer noch nicht einig darüber, was die eigentlichen Ursachen der Schuldenkrise sind, geschweige denn wie mögliche Lösungen aussehen könnten.

Einige meinen, die große Rezession sei hauptsächlich das Resultat von zu laxen Finanzregulierungen, welche dazu führten, dass die finanziellen Institute zu große Risiken eingingen. Der U.S. Kongress hat mit dem Dodd-Frank Act 2010 versucht dagegen zu wirken. Dieses Gesetz ist ein 2.300 Seiten starker Gigant, der die Finanzindustrie bis in die Einzelheiten reguliert. Diese Reform jedoch auch umzusetzen, gestaltet sich als deutlich schwierige. Einige der Regulierungen, besonders die sogenannte Volcker-Regel (benannt nach ihrem Autor, dem ehemaligen Vorsitzenden der U.S.-Notenbank Paul Volcker), welche den Eigenhandel von kommerziellen Banken verbietet, werden in Washington noch heftig debattiert. In der Tat sagen Kritiker einer strengeren Finanzregulierung, dass es nur ein typischer, wenngleich heftiger Boom-Bust-Zyklus war, der die Krise ausgelöst hat, und dass sich die Märkte bald wieder erholen werden. Sie glauben, dass eine Überregulierung der Märkte kontra-produktiv wäre und Wachstum behindern würde. Das Argument lautet, dass überhaupt erst eine Überregulierung die Krise ausgelöst hat. In Europa sehen sie die Wirtschaften unter einem großzügigen Sozialsystem und den dadurch entstandenen Schulden zusammenbrechen. Auch in den USA argumentieren sie für eine Kürzung der Sozialleistungen. Kritiker dieser Sichtweise argumentieren dagegen, dass gerade in Zeiten der Krise Regierungen eingreifen müssen, um die Wirtschaft zu stabilisieren und zu stimulieren und den Anreiz zum Wachstum zu liefern. Diese, zum Großenteils ideologische, Debatte wird von den Medien als Kampf zwischen Sparsamkeit und Wachstum bezeichnet und findet auf beiden Seiten des Atlantiks statt.

Andere Analysten gehen allerdings noch weiter. Sie sehen tiefe Bruchstellen in der Wirtschaft der Industrieländer und sehr tiefgehende strukturelle Schwächen, die durch die Krise offenbart wurden. Im Rückblick sehen sie eine Reihe von verlorenen Jahrzehnten, die zu dem plötzlichen, wenn auch nicht ganz überraschenden Flächenbrand geführt haben. Einige glauben sogar, dass der dramatische Abschwung den Kern der modernen, globalisierten Wirtschaft und die traditionellen Prinzipien der westlichen Demokratien getroffen hat. Sie verweisen auf die steigenden Ungleichheiten in westlichen Gesellschaften und fürchten, dass die Lösungen der Wirtschaftskrise lang-gehegte demokratische Prinzipien aushöhlen. Sie argumentieren, dass die Herausforderungen sowohl politischer als auch wirtschaftlicher Natur sind.

In einem stimmen die Experten allerdings überein: Die Zeit der sogenannten „Großen Moderation“, die in den 80er Jahren begann, ist vorbei. Risiken und die Furcht davor sind zurückgekehrt. Der Westen hat unhaltbare Schuldenberge aufgetürmt und die Finanzmärkte bezweifeln, dass diese abbezahlt werden können. Diese Unsicherheit wird durch die Verschiebung des ökonomischen Machtgewichts noch verstärkt. Manche bezeichnen dies als eine „Niemands-Welt“, in der es keinen Hegemon gibt und keine Einigung über ein neues Machtgefüge. Sie weisen darauf hin, dass der erste Impuls, auf die Krise 2008 gemeinsam durch die G20 zu reagieren, von Stimmen in Europa und in den USA nach mehr Protektionismus verdrängt worden ist.   Die G20 ist ein Forum ohne Agenda geworden. Treiben wir auf ein Zeitalter von politischer und wirtschaftlicher Zersplitterung hin?[1]

Einige europäische Politiker, aufgeschreckt durch ihre eigene Machtlosigkeit, die Krise ohne die existierenden  europäischen Institutionen lösen zu können, warnen vor einem Bruch zwischen dem Norden und Süden des Kontinents.[2] Andere weisen darauf hin, dass den  europäischen Institutionen sowohl die demokratische Legitimation als auch die exekutiven Mittel fehlen, um eine schwere Krise zu meistern. Finanzielle Märkte in Europa, die während der letzten zwanzig Jahre in einem gemeinsamen Markt integriert waren, beginnen zu zersplittern. Dies nötigte die Europäische Zentralbank (EZB) dazu, beispiellose Maßnahmen zu ergreifen. Auch wenn die EZB ein neues Programm zum Kauf von Anleihen gestartet hat, welches dem Markt einiges an Vertrauen zumindest kurzfristig zurückgegeben hat, sind viele Investoren dennoch verunsichert, ob die Zentralbank die Eurozone mittelfristig stützen kann. Einige deutsche Politiker fürchten, dass sogar die europäische Lebensweise in Gefahr ist.

Europa ist zu einem Mikrokosmos geworden, der sich mit Fragen auseinandersetzt, die weit über seine Grenzen hinausreichen.

  • Existieren westliche Werte, ein westliches Gesellschaftsmodel noch?
  • Wie können die Notwendigkeit von größerer internationaler Integration oder zumindest Kooperation und vertiefte demokratische Kontrolle vereinbart werden?
  • Sind moderne westliche Demokratien noch in der Lage, langfristige Ziele und Prioritäten zu setzen, die über Wahlperioden hinausgehen?
  • Können weitere ökonomische und politische Integration die internationalen Systeme und Europa belastbarer gegen plötzliche Schocks machen?
  • Spaltet die Schuldenkrise den Kontinent? Könnte Europa als neuer Herd globaler Instabilität entstehen?

Dies sind alles wichtige Fragen. In einem Brief an Investoren Anfang 2012 warnte Bank of America Merrill Lynch, dass „Wir jetzt alle Europäer sind.“ Auch am Ende des Jahres stimmt dies noch. Es ist immer noch in Amerikas strategischem Interesse, dass die Eurozone erhalten bleibt. Falls der Euro scheitert, wird wahrscheinlich auch der europäische Binnenmarkt scheitern. Ein Scheitern des Binnenmarktes würde das gesamte europäische Projekt gefährden. Falls die Europäische Union scheitert, wird Europa wieder ein Herd politischer und wirtschaftlicher Unstabilität werden. Dies ist kein Risiko, dass Politiker gerne eingehen. Sollten jedoch keine weiteren Schritte in Richtung größerer, demokratischer Integration gemacht werden, könnte Europa sehr wohl politisch instabiler werden.

Die Schuldenkrise in Europa entlarvte die Unzulänglichkeiten demokratisch-gewählter Politiker und ihr Zögern, schwierige Entscheidungen zu treffen. Die Zentralbanken auf beiden Seiten des Atlantiks haben immer wieder das politische Vakuum füllen müssen; dabei sind sie jedoch bis an die Grenzen ihrer Mandate gegangen und sind politisch angreifbar geworden.  Europäische Politiker müssen erkennen, dass, wenn sie weiterhin mit dem Feuer spielen und die grundlegenden Schwächen der Eurozone nicht beheben, ein teilweises oder komplettes Auseinanderbrechen der Eurozone sehr wohl passieren könnte. Sie sollten erkennen, dass das Worst-Case-Szenario nur durch die Intervention der europäischen Zentralbank vermieden wurde. In der Tat ist die EZB der eigentliche Architekt der Rettung. Doch für Politiker ist es jetzt an der Zeit, von ihnen liebgewonnenen Gewohnheiten Abschied zu nehmen.

Deutschland hält auch im Herbst 2012 trotz der kürzlich getroffenen Entscheidungen der EZB und des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe den Schlüssel, um die Krise zu lösen, daher wird der Hauptaugenmerk dieses Aufsatzes auf Deutschland fallen. Wir werden einen Plan aufzeigen und die Hürden beschreiben, die vor uns liegen. Wir werden aufzeigen, wie Deutschland sich wahrscheinlich verhalten wird. Wir werden argumentieren, dass, falls Bundeskanzlerin Angela Merkel wirklich ein erfolgreiches Europa will, die Eurozone in den nächsten Monaten die Kurve kriegen muss. Wir werden die Herausforderungen, denen Bundeskanzlerin Merkel und die Politiker in Europa in den nächsten Monaten begegnen werden, aufzeigen und die Gefahr einer Weiterführung des vorsichtigen Schritt-für-Schritt-Ansatzes beschreiben. Wir werden einige der praktischen Möglichkeiten ausführen und zeigen, was die Konsequenz von Handeln oder Nicht-Handeln sein könnte.

Unsere Empfehlungen sind folgende:

  • Die Erwägung eines weiteren drastischen Schuldenschnitts für Griechenland, nachdem die Regierung in Athen endlich belegt hat, dass sie in der Lage ist, ein erhebliches Haushaltsplus zu erwirtschaften. Wir glauben, dass es vielleicht nötig ist, dass Griechenland die öffentlichen Schulden, die von offizieller Seite (also den Ländern der Eurozone und der EZB) gehalten werden, umstrukturiert. Ein gut ausgeführter Teilbankrott Griechenlands kann und sollte jedoch nicht einen Austritt Griechenlands aus der Eurozone auslösen.
  • Eine umfassende Vereinbarung für eine Bankenunion, möglichst bis Ende des Jahres. Eine Vereinbarung zu einer Bankenunion ist nicht nur eine Voraussetzung für einen Rahmen, um die weitere finanzielle Zersplitterung Europas aufzuhalten und umzukehren. Es ist auch die Chance für Europäer, ihre Bereitschaft für die Schaffung einer besseren Union zu beweisen.

Abschließend möchten wir daraufhinweisen, dass trotz aller Kritik Berlin oft den Kollaps der gemeinsamen Währung verhindert hat. Deutschland war bei dem Versuch, einige Geburtsfehler der Währungsunion zu beheben, instrumental und hat viele Vorschläge für eine engere Union gemacht. Allerdings hat Deutschland noch nicht die fundamentale Wahl zwischen einem Europa, das einfach besser koordiniert  ist, und einem, das entscheidende Schritte für größere politische Integration unternimmt, getroffen. Deutschlands Beobachter Rolle, die polarisierte innenpolitische Debatte und das Zögern, robuste finanzielle Garantien zu liefern, haben die Märkte verunsichert und unzweifelhaft zu einer Verschlimmerung der Gesamtsituation geführt.



[1] Weitere Analysen finden sie hier: Raghuram G. Rajan, Fault Lines (Princeton: Princeton University Press, 2010); Barry Eichengreen, Exorbitant Privilege: The Rise and Fall of the Dollar and the Future of the International Monetary System (Oxford: Oxford University Press, 2010); Menzie D. Chinn and Jeffry A. Frieden, Lost Decades (New York: W. W. Norton and Company, 2011); Paul Krugman, The Return of Depression Economics and the Crisis of 2008 (New York: W.W. Norton and Company, 2009); Michael Spence, The Next Convergence (New York: Farrar, Straus and Giroux, 2011); Charles Kupchan, No One’s World: The West, the Rising Rest and the Coming Global Turn (Oxford: Oxford University Press, 2012); Financial Crisis Inquiry Commission, Final Report of the National Commission on the Causes of the Financial and Economic Crisis in the United States (Washington, DC: Government Printing Office, 2011); Allan H. Melzer, Why Capitalism (Oxford: Oxford University Press, 2012); Carmen M. Reinhart and Kenneth Rogoff, This Time Is Different: Eight Centuries of Financial Folly (Princeton: Princeton University Press, 2009).

[2] Der italienische Premierminister Mario Monti hat mehrmals öffentlich vor einer solchen Trennlinie zwischen dem Norden und Süden Europas gewarnt. Siehe: Mario Monti, italienischer Premierminister, Interview in Der Spiegel, 6. August 2012.

The views expressed are those of the author(s) alone. They do not necessarily reflect the views of the American-German Institute.